Leichen pflastern ihren Weg – Unterwegs mit dem größten Fan des Kriminalgerichts (dummy)

Natürlich hat sie früher in ihrem Dorf im Norden Brandenburgs auch manchmal den Fernseher angeschaltet und sich dann Barbara Salesch oder Alexander Hold angesehen. Laiendarsteller stritten sich vor laufender Kamera in einer Gerichtskulisse. Basierend auf wahren Begebenheiten. „Murks“, sagt Kim Victoria Hillen heute, „Quatsch“ seien diese Sendungen gewesen. Allein schon diese Sprache, diese ständigen Beschimpfungen. Vollkommen unrea- listisch. Das reinste Placebo im Vergleich zu dem Stoff, den sie bekommt, wenn sie ein echtes Gericht betritt.
Nervös streicht sie sich durch die Haare und erzählt, dass sie noch immer bei jedem Mal diese Aufregung spürt. Der Kick setzt quasi schon kurz vorher ein. Da, kurz mal bitte hinschauen, die Hand- ballen seien ganz feucht. Sie steht am Rande einer eher schmudde- ligen Straße in Moabit. Viel Leerstand hier. Keine tolle Gegend. Auf dem Gehweg, ein paar Meter weiter in Richtung U-Bahn, stol- pert man über gebrauchte Jeans, einen einzelnen Schuh, bis man an einem umgekippten Eimer mit roter Farbe ankommt. Manche Häuser sehen tatsächlich noch wie Ruinen aus.
Schon aus der Ferne erblickt man das Kriminalgericht, weil es so pompös in den grauen Himmel ragt. „Das Haus der Abgründe“, bitte aufschreiben und r den Artikel verwenden, signalisiert sie, das ist nämlich Kims Kosename r diesen Bau. 60 Meter hohe Türme, 210 Meter Straßenfront. Neobarocke Fassade, Geheimgän- ge und Tunnel, die direkt ins Untersuchungsge ngnis hren. Eines der größten Gerichte Europas. „Allein schon dieser Ge- ruch …“, erklärt sie. „Ich bin von diesem Gebäude total fasziniert.“ Erich Honecker und Bubi Scholz saßen hier auf der Anklagebank, George Grosz, Horst Mahler und der Bankräuber Dagobert. Moab- it, das ist eben etwas ganz Besonderes. Eine Kathedrale, eine Jus- tiz-Fabrik, ein Labyrinth, in dem das Böse ein Gesicht bekommt. Draußen wartet ein Großaufgebot der Polizei, weil heute wieder mal ein Rocker-Prozess ansteht. Drinnen empfangen einen Dreh- kreuze aus Stahl, Metalldetektoren, Jacken, Rucksäcke, Taschen werden geröntgt. Kim grüßt fröhlich und schäkert mit den Justiz- bediensteten herum, dem Bodenpersonal, wie sie es nennt, zeigt ihren Ausweis, weitergehen bitte schön, man kennt sie hier. Dann betritt sie die berühmte Eingangshalle, das Gewölbe, die ausla- denden Treppen, auf denen jeder Mensch zu einem Winzling schrumpft. Links und rechts die allegorischen Figuren der Lüge und der Streitsucht, in der Mitte die große Uhr. Juristen ziehen hier ihre Aktenko er auf Rollen vorbei, Zeugen irren durch die Halle, außerdem Studenten, Referendare, die Wachtmeister, zumeist bul- lige Typen mit kurz rasierten Haaren in blauer „Justiz“-Uniform. „48 Jahre alt und blond. Zwilling. Groß. Augenfarbe blau, unge- küsst, aber mit einem scharfen Verstand.“ So beschreibt sich Kim Victoria Hillen selbst. Sie war mal Altenpflegerin und Pferdezüch- terin und muss jetzt erst mal nicht mehr arbeiten, weil sie etwas Geld zurückgelegt hat. Wiedergeboren werden würde sie gerne, und zwar als Mordermittlerin. Aus ihrer halb geö neten Handta- sche baumelt ein Schlüsselanhänger. Das Fan-Accessoire trägt die Aufschrift „Bundespolizei“.
Vor etwa anderthalb Jahren zog es sie hier rein. Im „Ruppiner An- zeiger“, der Lokalzeitung, entdeckte sie das Foto einer Frau mit langen braunen Haaren, die Augen waren unkenntlich gemacht.
Darunter stand etwas von einem jungen Pferdemädchen, das mit Gift getötet werden sollte. Gelangweilt sei sie damals eigentlich nicht von ihrem Leben gewesen, sagt Kim, aber sie hatte eben Zeit. Außerdem sprach das Wort Pferd sie an, weil sie ja selber einmal Züchterin gewesen ist. „Ich wollte die Gesichter der Angeklagten sehen. Ich wollte wissen, was r Menschen das sind, die so eine bösartige Tat begehen“, sagt sie. Also fuhr sie los in Richtung Sü- den, etwa eine Stunde braucht sie von ihrem Dorf bis nach Berlin. Die Vorgeschichte geht so: Eines Morgens findet eine Spaziergän- gerin in Lübars, am Stadtrand von Berlin, eine tote junge Frau im Gebüsch. Sie liegt verkrümmt auf einem Baumstumpf, ihre Augen stehen weit o en, der rechte Zeigefinger ist ausgestreckt, so dass es wirkt, als deutete sie auf irgendwas. Das war das Pferdemäd- chen, zwei Mordanschläge hatte es überlebt, den dritten jedoch nicht. Sie wurde, es sieht derzeit jedenfalls stark danach aus, zum Opfer eines Komplotts. Ihr Freund und dessen Mutter hatten heimlich nf Lebensversicherungen r sie abgeschlossen und erho ten sich 2,5 Millionen Euro von ihrem Tod.
Der Prozess um das Pferdemädchen läuft noch immer, und er hat alles, was Kim Victoria Hillen braucht: eine Leiche, eine Verschwö- rung, einen komplett bescheuerten Plan, um an Geld zu kommen, und ein Mädchen, das nur aus Liebe starb.
Das Kammerspiel ist o en r jeden, es kostet keinen Eintritt und findet in einem großen holzgetäfelten Saal mit schweren Kron- leuchtern statt. Von der Decke blicken eine goldbekrönte Justitia und eine flügelschlagende Eule herab. Rechts sitzen drei junge Männer hinter Panzerglas. Ein mutmaßlicher Auftragskiller, ein mutmaßlicher Vermittler und einer, der nicht nur der Liebhaber der Toten, sondern auch noch der mutmaßliche Drahtzieher war. Links, ebenfalls hinter Panzerglas, zwei weitere mutmaßliche Täterinnen. Am ersten Verhandlungstag, an dem Kim in diesem Gericht war, hat eine der beiden Frauen den Giftanschlag und die spätere Vermittlung eines Auftragskillers gestanden. Ein superdra- matischer Moment war das, und sie war hier, Kim hat es gespürt, gerochen, live erlebt.
Mit gebanntem Blick nimmt sie auf der Zuhörerbank Platz, ein hüfthoher Holzzaun, das ist alles, was zwischen ihr, der Presse und dem Prozessgeschehen liegt. Beim Sitzen drückt sie ihre Knie aneinander und hat die Hände wie zum Gebet verschränkt. „Ja, ja“, flüstert sie zustimmend, als der Vertreter der Nebenklage, der bei der völlig verheulten Mutter des Pferdemädchens und dem etwas gefassteren Vater sitzt, über die Abartigkeit einer Angeklagten re- feriert. Die Arena, die sich da vor ihr auftut, ist ge llt mit Recht- sanwälten, in der Mitte des Saales thront der vorsitzende Richter und leitet den Prozess. Sie hat ein bisschen recherchiert und von vergangenen Urteilen dieses Richters erfahren, deswegen ist sie jetzt besorgt. Der Richter sei zu milde, rchtet sie. Sie leidet und fiebert bis zum letzten Prozesstag mit. Ob es am Ende auch das wird, was sie sich erho t? Natürlich kann das nur sein: Höchst- strafe, lebenslänglich plus, wegen der Schwere der Schuld. Manchmal schaut Kim schon am Wochenende im Internet nach, um zu erfahren, welche Verbrecher und Wahnsinnigen die Stadt in der kommenden Woche wieder ausspucken wird. Auf www. berlinkriminell.de, der Webseite der Gerichtsreporterin Barbara Keller, findet sie eine Liste mit den neuen Terminen. Montag: ein Räuber, der mit einem Elektroschocker Geschäfte überfallen hat. Dann ein Vergewaltiger und zwei Drogendealer. Dienstag: Auf- tragskiller erschoss einen Mann im Wettbüro. Ein psychisch Kran- ker, der Menschen in einer Bar angegri en hat. Nichts Besonderes so weit, das Standardprogramm. Aber hoppla, das hier könnte vielleicht etwas sein – Mittwoch: Ein 21-jähriger Kunststudent tö- tet seinen Vater, einen Maler und Filmemacher, prügelt mit einem Stuhlbein auf ihn ein und rammt ihm dieses in die Brust. Zwei- bis dreimal pro Woche hrt Kim nach Moabit. „Ich mache nur Mord und Totschlag. Paragraf 211 und 212. Der Rest interessiert mich eigentlich nicht.“
Einmal, da beging sie einen Fehler und saß auch auf der Zuschau- erbank, als eine Gruppe Drogenkuriere angeklagt war. Sie sollten Amphetamin, Heroin und Kokain im Wert von 400.000 Euro über die deutsch-holländische Grenze gebracht haben. Aber der Pro- zess war so, wie die meisten Prozesse eben sind. Stellenweise lan- gatmig, technisch, unemotional. Sie verließ die Verhandlung und setzte sich einfach in einen anderen Saal. Das ist das Gute an die- sem monströs riesigen Gericht: Wenn es langweilig wird, funktio- niert es wie ein Fernsehapparat. Man zappt sich durch die ganzen verkorksten Leben dieser Menschen, denn irgendwo läuft immer ein interessanter Fall.
Kims Highlights aus den vergangenen Monaten: Ein biederer Handelsvertreter tri t sich mit einem Bankangestellten zum Sado- maso-Sex. Dabei tötet er ihn. Anschließend zerhackt er die Leiche und kocht dann den Kopf. Oder: Eine Russin erstickt ihr eigenes Kind nach der Geburt mit einer Decke. Oder: Ein Mann schlägt der kleinen Tochter seiner Freundin so heftig in den Bauch, dass sie einen Dünndarmriss erleidet und stirbt.
Im Winter, wenn es richtig kalt wird, erzählt ein Wachtmeister, schmuggeln sich auch schon mal Obdachlose auf die Zuschauer- bank. Davon abgesehen gibt es nur eine Handvoll Menschen in Moabit, die ähnlich große Fans des Gerichtes sind wie Kim. Sie kommen seit Jahren hierher und schauen sich ohne klar definier- ten Auftrag und persönlichen Bezug eine Verhandlung nach der anderen an. Einer ist ein ehemaliger Angestellter der Rentenver- sicherung. Dann gibt es noch einen ehemaligen Informatiker, der auch mal Schö e war. Eine andere sitzt zusammengesunken, mit nach unten gerichtetem Blick und ohne ein Wort zu sagen auf der Zuschauerbank, sie gilt bei manchen hier als potenziell verrückt. Noch eine andere heißt Inge, sie ist eine kleine weißhaarige Rent- nerin und diejenige, die Kim nach ihren ersten Tagen beim Pferde- mädchen angefixt hat mit der Droge Kriminalgericht. Inge erzählt, dass sie genau wie Kim gerne die Anrufsendung von Domian schaut. Wenn es zu sehr um Sex geht, ge llt es ihr nicht. Wenn es zu sehr um Krankheiten geht, ge llt es ihr nicht. Aber soziale Proble- me, echte Menschen, die in echte Not geraten, sind ihr Ding.
Inge und Kim sitzen beim Zaunmörder in Saal 504. Es ist ein- deutig weniger glamourös hier als beim Pferdemädchen, ohne Panzerglas und Lautsprecher, und voraussichtlich ist auch keine Lovestory dabei, da r ist man ge hlt aber viel dichter dran. Der Angeklagte sieht aus wie der nette, aber nicht unge hrliche Prolet von nebenan, er ist gekleidet, als stünde er nicht vor Gericht, son- dern trainiere gleich wieder r einen Marathonlauf. Der Mann trägt Turnschuhe, Jogginghose, dazu das passende Oberteil. Als seine Anwältin das Wort ergreift, dreht sich eine junge Frau auf der Zuschauerbank zu Kim um und macht die Kotzgeste. Die Alte nervt. Zickig sei diese Anwältin, bestätigt Kim, aber sie habe mit ihrer Masche bislang Erfolg gehabt. Der Prozess läuft schon seit einer Weile, aber heute will der Angeklagte endlich zugeben, dass er seinen ältesten Freund und Geschäftspartner, einen Typen, den er seit fast 40 Jahren kannte und mit dem er ein Bordell betrieben hat, aus heiterem Himmel einfach mal so erschossen hat. Der Zaunmörder ngt in jovialem Tonfall zu erzählen an. Nein, die Ermittler hätten das alles ganz falsch rekonstruiert. Er hätte zu l- lig im Garten gestanden, dann sei der andere nach Hause gekom- men, und dann hätte er eben von dort aus über den Zaun geschos- sen, der Schusskanal sei doch so und so, und überhaupt gebe es da eine Böschung im Gelände. Ja, und der Tote habe ein Messer ge- habt. Der sei fit gewesen, der hätte ihn, wenn er es nicht zuerst getan hätte, auf jeden Fall „erlegt“.
„Was sollte das eigentlich?“, fragt der Richter.
„Es hat sich einfach so ergeben. Keine Ahnung. War nicht geplant.“ „Wie stehen Sie denn heute nach der Untersuchungshaft zu der Tat?“ „Ick finde es schade, dass so ’ne langjährige Freundschaft so ge- endet ist.“
In der Verhandlungspause sitzen Kim und Inge und die Kotzges- tenfrau, die sich als die Freundin der Tochter des toten Bordellbe- sitzers entpuppt, auf einer Holzbank im Gang. Kühl ist es hier, ein eisiger Wind scheint durch die Gänge zu wehen, die Wände sind mit türkisfarbenen Fliesen beklebt. Ein Mörder ohne Motiv, der noch dazu keine Ge hlsregung zeigt? Alle wirken enttäuscht. Je- mand sagt: „Das ist doch Quatsch, was der hier erzählt.“ Inge be- richtet wieder von Domian, von Schwulen, die in letzter Zeit häufig anrufen und beichten, dass man sie zusammengeschlagen hat. Kim klärt die junge Frau mit Hilfe ihres gigantischen Insiderwissens über das Pferdemädchen auf. „Ich seh’s alles noch vor mir“, sagt sie. „Die haben das Pferdemädchen r 2,5 Millionen versichert und sie dann von einem Dritten töten lassen.“
„Krass!“
„Und in der Nacht, bevor Robin sie hat töten lassen, hat er noch mal mit ihr geschlafen. Im Haus der Eltern!“
„Aua!“
„Na, und dann hat Tanja, die den Mörder besorgen sollte, im Poli- zeiverhör erfahren, dass sie nur benutzt und betrogen wurde, und hat darau in gegen die anderen ausgesagt.“
„Ey, geil, Alter! Das haben die mal richtig gut gemacht.“
„Und: Als die Polizei die Mutter von Robin verhaftet hat, hat die Mutter nicht mal nach dem Grund gefragt. Sie hat noch in Ruhe ihren Ka ee ausgetrunken, das schmutzige Geschirr abgewaschen und ihre Hunde weggebracht.“
„Also … nein!“
Ein Wachtmeister ruft in den Flur hinein, der Prozess werde fort- gesetzt. Anders als im Fernsehen gibt es kein spontanes Urteil, keine dramatische Wendung, keinen Höhepunkt. „Wir sehen uns wieder am neunten Dezember“, verkündet der Richter nur und beendet diesen Tag. Kim und Inge und die anderen Zuschauer ste- hen auf und trotten aus dem Saal.
Kim gibt zu, dass es schwierig ist, so eine Leidenschaft mit seinen Freunden und Verwandten zu teilen. Ihr Vater zum Beispiel, mit dem sie sich das Haus in Brandenburg teilt, schaut gerne Krimis. „SOKO Leipzig“, „SOKO Wien“, „Polizeiruf“, solches Zeug. Dem ema Mord und Totschlag ist er prinzipiell also ebenfalls nicht abgeneigt. Aber wenn sie ihn fragt, ob er denn mal mitkommen will nach Berlin, echte Verbrecher gucken, sagt er nur: Lass mich doch in Ruhe mit deinem Kriminalgericht. Ihre Friseurin habe sie einmal begleitet, das ja. Aber zwei- bis dreimal die Woche? Das wollte sie nicht.
„Wie kommt ein Mensch nur auf so eine Idee?“ Das ist die große Frage, um die Kim Victoria Hillens Leben derzeit immer wieder kreist. Das Privileg, in einem Beruf zu arbeiten, in dem man mit Schwerverbrechern zu tun hat, hatte sie ja leider nie. In Essen, er- zählt sie, kann man in diesen Tagen einen zumeist in FC- Bayern-Trikot gekleideten Sadisten sehen, der nicht nur seine Stieftochter vergewaltigt und ein Kind mit ihr gezeugt, sondern sie dann auch noch mit der Hilfe seines Sohnes in eine Gartenlaube gelockt, erschlagen und einbetoniert haben soll. „Das ist der Ham- mer“, sagt Kim, wenn sie auf einen Fall wie diesen stößt. Berlin scheint allmählich ein bisschen zu klein zu werden r sie. Wo- möglich muss sie, wenn sie die Dosis steigern will, ihren Radius langsam mal erweitern. Zum Schaufelmörder nach Aachen hat sie es ja leider nicht gescha t. Der Mann aus Essen würde sie eben- falls reizen, gibt sie zu verstehen. Der Prozess endet wohl erst im nächsten Jahr. Vielleicht, sagt sie, scha t sie es ja und hrt bis dahin mal hin.

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