Böse Menschen würden vielleicht behaupten, er sei am Ende oder zumindest kurz davor. Aber das stimmt nicht. Auf keinen Fall. Herr Huber, ein kleiner, schlanker Mann mit Glatze, widerspricht da ziemlich vehement. Es ist, wie immer bei ihm, eine Frage der Perspektive. Blickt man nämlich erst mal aus dem richtigen Winkel auf dieses Leben, wird es plötzlich das Gegenteil von dem, für das man es ursprünglich einmal hielt. Herr Huber ist auf einmal doch so etwas wie ein erfolgreicher Typ. Ein Hallodri und Frauenschwarm, der wilde Jetset-Jahre in Asien, USA, Südamerika und auf den Kanaren verbracht hat. Ein Mensch, der in einem bayerischen Dorf als Sohn eines Schneiders aufwuchs, eine Lehre als Dreher machte, geniale Ideen und Businesspläne in Serie produzierte und völlig zu Recht im Geld zu schwimmen begann. Im Gegensatz zu all den Langweilern und Kleinkrämern in seiner Wahlheimat Hannover hat er immerhin die ganz, ganz großen Abenteuer erlebt.
Das Blöde ist nur, dass man es eben auch anders sehen kann. Es gibt durchaus alternative Fakten, was Herrn Huber anbelangt. Die groben Rahmendaten der letzten Jahrzehnte in seinem Leben seien an dieser Stelle kurz erwähnt. Viermal Gefängnis, insgesamt zehn Jahre abgesessen, vier Ehen zum Scheitern gebracht, drei Kinder gezeugt, die er so gut wie überhaupt nicht kennt. Herr Huber ist mittlerweile 70 Jahre alt. Er bekommt im Monat eine staatliche Grundsicherung von 400 Euro und hat zirka eine Million Euro Schulden. Andere würden das eine Katastrophe nennen und ihr Leben verfluchen, aber Herr Huber wäre nicht Herr Huber, wenn es ihm nicht gelänge, auch diesen Schlamassel positiv zu sehen. Strahlend erklärt er: „Ich habe so wahnsinnig viel Glück gehabt.“
Bestimmt ist es kein Zufall, dass er überhaupt nicht aussieht wie jemand, der gerade eben erst aus dem Gefängnis entlassen wurde und mit 400 Euro über die Runden kommen muss. Herr Huber ist tipptopp gekleidet, ein richtiger Gentleman. Heute trägt er einen feinen dunklen Wollmantel, ein weißes Hemd, einen rot leuchtenden Pullover. Die Lederschuhe hat er frisch poliert. Herr Huber sagt: „Für mich nur Formel 1, das Beste oder nichts.“
Es gibt unterschiedliche Versionen darüber, was der Aufenthalt im Gefängnis, das er „die Kiste“ nennt, mit ihm angerichtet hat. In Version 1 sagt er, dass es am Anfang sehr grausam war und ihm wehgetan hat und er sich jedes Mal so fühlte, als würde er sterben. In Version 2 war es eigentlich nur halb so wild. „Wenn das Leben dir eine Zitrone reicht, mach Limonade daraus“, sagt Herr Huber und lacht. Sieben Jahre saß er das letzte Mal in der Kiste. Er hat viel gelesen und geschrieben, die Zeit verging recht schnell. Herr Huber ist auch überhaupt nicht wie der traurige Romanheld Franz Biberkopf, der in „Berlin Alexanderplatz“ das Gefängnis verlässt und erfolglos seinen Platz in der Gesellschaft zu finden versucht. Bei ihm war das nämlich ganz einfach. Er ging rein mit einem iPhone 3, und als er rauskam, holte er sich eben ein iPhone 6. So sehr habe sich die Welt ohne ihn jetzt auch nicht verändert. Alles war mehr oder weniger genau so wie davor.
Es ist durchaus angenehm und unterhaltsam, in seiner Gesellschaft zu sein. Wenn man mit ihm durch Hannover spaziert, fühlt es sich an, als folge man einem gutherzigen König bei der Inspektion seines Reichs. Er verteilt Grüße an wildfremde Personen, schäkert mit Kellnerinnen, flirtet in der Straßenbahn mit Damen, die er fesch nennt, überschüttet Hunde und ihre Halterinnen mit seinem bayerischen Charme. „Hoho, ein Ausziehdobermann!“, ruft er beim Anblick eines Pinschers. Sein anderer Standardhundespruch ist: „Ein Tiger! Hilfe, ich ergebe mich!“
Gemeinsam durchschreiten wir eine Allee am Rande des Expo-Geländes, von der er scherzhaft sagt, dass sie seine sei, weil er sich im Sommer manchmal die Kirschen von den Bäumen pflücke, und erklimmen seinen Lieblingshügel, von dem aus man weit in die platte Landschaft Niedersachsens schauen kann. Herr Huber startet einen großen Monolog. Kosmetik aus Nerzöl, Motivationsseminare, Schlafberatung, Versicherungen, er hat beruflich so ziemlich alles gemacht. Ein bisschen wirr, aber mit großer Leidenschaft und Begeisterung erzählt er von dem Menschen, der er mal war und womöglich noch immer ist. Für kurze Augenblicke scheint es fast, als habe die ganze Welt da draußen, alles, was es gibt, früher mal diesem kleinen Herrn gehört.
Natürlich ahnt er, dass ein Fremder die abenteuerlichen Geschichten, die da auf ihn einströmen, womöglich als Märchen abtun wird. Deswegen hat sich Herr Huber auch vorbereitet und einen Ordner mit Beweisen dabei. Da, bitte schön. Man liest es jetzt schwarz auf weiß. Hier sind zum Beispiel die Patente, die belegen, dass Herr Huber nicht nur Biogasanlagen erfunden hat, sondern auch noch ein Verfahren entwickelte, mit dem man aus Müll Öl gewinnen kann. Und auch ein paar lobende Lokalzeitungsartikel aus den 1990er-Jahren hat er fotokopiert und mitgebracht. Da sieht man auf einer Aufnahme einen jungen Herrn Huber auf dem Höhepunkt seiner Karriere mit stolz geschwellter Brust zwischen internationalen Wirtschaftsmachern und Politikern. Das war sein Husarenstück. Ohne Spanisch zu sprechen oder sich mit Weiterbildung in Handwerksberufen auszukennen, hatte er es irgendwie geschafft, eine paderbornisch-kanarische Ausbildungspartnerschaft einzufädeln, und mittels einer sächsischen GmbH Millionen an Fördermitteln eingesackt.
Ob er ein Betrüger ist? Nein, Gott bewahre. Herr Huber guckt entsetzt. Den Begriff lehnt er ab. So wie er die Geschichten seiner zahllosen Verurteilungen und Gefängnisaufenthalte erzählt, ist es eher eine Aneinanderreihung von kuriosen Missverständnissen. Er wollte sich ja niemals selber bereichern. Der Diebstahl sei mit dem Bestohlenen abgesprochen gewesen. An den gefälschten griechischen Pässen habe er nichts verdient. Er war verliebt. Oder er hat einfach nicht gewusst, dass die Umsatzsteuer dem Staat gehört. Und eigentlich ging es ihm immer nur darum, anderen zu helfen. Im Grunde, jetzt kommt wieder diese tolle Huber-Perspektive, ist er ein waschechter Sozialdemokrat und eine Art Robin Hood.
Auf diesem kleinen Hügel außerhalb der Stadt Hannover gibt Herr Huber dann auch noch einmal eine Kostprobe seines Könnens. Mit geballten Fäusten hält er ein Impulsreferat über eine bombensichere Geschäftsidee. Sein Thema: Ritter-Sport-Schokolade in Containern nach China verschiffen und dort umverpacken, damit das Design auch den lokalen Bedürfnissen entspricht. Die Chinesen seien süchtig nach deutscher Schokolade. Und wenn nur einer von tausend Einwohnern eine Ritter-Sport-Schokolade aus dem Container kaufe, seien die Profite enorm. Es klingt erst mal absolut bescheuert, aber wenn man ihm eine Viertelstunde lang zuhört, ist es plötzlich gar nicht mehr so dumm. Und wenn man Herrn Huber dann noch zwei Stunden weiterreden ließe, wäre das eigene Konto wahrscheinlich leer.
Natürlich ist sein Mojo mittlerweile ein bisschen ramponiert, seine Überzeugungskraft nicht mehr ganz so mächtig wie früher, er ist eben alt geworden und war ziemlich lange weggesperrt, aber man kann sich vorstellen, wie Huber damals Massen von Menschen mit seinen Worten und Gesten begeisterte. Mithilfe seiner ganz speziellen Zauberkraft führte er sie durch Risse in der tristen Wirklichkeit und zeigte ihnen, wie schön es da draußen war. Sogar Uli Hoeneß, Jupp Heynckes und Felix Magath blieben von Hubers Ideen nicht verschont. In Briefen aus dem Gefängnis bot er sich als Mental-Coach für deren Fußballmannschaften an und versprach, wenn sie ihn engagierten, verlören sie nie wieder ein Spiel.
Auf dem Weg in seine Wohnung grüßt Herr Huber schon wieder alle möglichen Menschen. Auch wenn er versichert, in seinem Viertel kenne ihn jeder, drängt sich der Verdacht auf, er habe in Wirklichkeit keinen einzigen Freund. Nicht nur seine Exfrauen und seine Kinder, sondern auch seine Schwester und deren Mann wünschen offenbar keinen Kontakt. Herr Huber ist komplett allein, aber das macht nichts, das gibt ihm nicht groß zu denken, denn er erklärt diesen Zustand sofort zu einer Art neuem Lebenskonzept. Frauen würden eh nur stören und einem die Freiheit rauben. Der Schwager sei ein Arschloch und habe die Schwester manipuliert. Den Kindern gehe es sicher prima. Man dürfe immer nur nach vorne schauen, niemals zurück. Die Vergangenheit sei nur Ballast. Was vorbei ist, ist vorbei. Und überhaupt habe er doch damals bei der Bundeswehr nicht umsonst eine Ausbildung zum Fallschirmspringer und Einzelkämpfer gemacht.
Seine Wohnung liegt in einer hübschen Gegend und befindet sich in einem Dachgeschoss. Der äußere Schein bleibt also gewahrt. Es ist blitzblank sauber hier drinnen und teurer eingerichtet, als man es von einem bettelarmen Mann erwarten kann. Auffällig ist: Herr Huber hat kein einziges Foto von sich oder seiner Familie aufgehängt. Die einzigen Dekorationsobjekte sind ein buddhistisches Mantra auf einem DIN-A4-Blatt, ein Yin-Yang-Zeichen und das Regal mit den vielen Büchern über die Themen, die er mag. „Die geheime Geschichte der Menschheit“. „Schicksalscocktail – selbst gemixt“. „Die Asylindustrie“. „Gekaufte Journalisten“. „Die Erde ist ein Projekt der Aliens“. Und der Klassiker: „Was ich Jahrzehnte lang verschwiegen habe“ von Erich von Däniken.
Herr Huber packt jetzt noch einmal neue Ordner aus. In einem befindet sich der rührende Brief eines Mitgefangenen, der ihm dankt und ihn beschwört, durchzuhalten und sauber zu bleiben. Huber gibt zu verstehen, dass ihn dieser Mensch eher nervt. In einem anderen Ordner findet sich Material, das ihm deutlich besser gefällt. Herr Huber zeigt Unterlagen über Wasserquellen in Österreich. Die seien eine große Nummer. Der oder die Glückliche, die ihm demnächst die Rechte an diesen Quellen abkaufe, das schwört Huber, sei in zwei Jahren Milliardär.
In der Haft haben sie ihm elf Zähne gezogen, das sieht nicht gut aus, und er hätte jetzt langsam gerne wieder neue, um sein gentlemanhaftes Wesen zu komplettieren. Es klingt fast wie eine Drohung, als Herr Huber eröffnet, dass er wegen der Zähne bald wieder Geld verdienen will. Vage erwähnt er, dass er darüber nachdenkt, die Staatsbürgerschaft von Paraguay anzunehmen und mittels einer Briefkastenfirma in Teneriffa zu operieren. Man möchte ihn schütteln und ohrfeigen, damit er endlich aufwacht aus diesem Traum. Kann er sich nicht ein Mal in seinem Leben benehmen wie ein ganz normaler Rentner, der in Geldschwierigkeiten steckt? Zeitungen austragen? Ferienwohnungen auf Teneriffa vermieten? Wäre das nicht was? „Das ist doch ein Witz“, sagt Herr Huber. Er wirkt ernsthaft beleidigt, weil man ihn mit einem durchschnittlichen Menschen vergleicht. Noch zwei Jahre ist er auf Bewährung, beim fünften und nächsten Mal verlässt er die Kiste wahrscheinlich in einem Sarg. Herr Huber versteht einfach nicht, warum ihn andere Leute dauernd vor diesem Szenario warnen. „Ein absoluter Blödsinn ist das“, knurrt er. Er behauptet, dass er sich mittlerweile penibel an die Gesetze hält, nicht mehr so unaufmerksam ist und jetzt jedes Projekt konkret bis zum Ende durchdenkt. Was auch immer das in der Praxis bedeuten mag – Herr Huber geht seinen Weg.
* „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert“, sagt Herr Huber dazu, dass seine Lebensgeschichte nun endlich einmal veröffentlicht wird. Obwohl er eigentlich absolut nichts dagegen hätte, mit echtem Namen in diesem Text aufzutreten, hat sich die Redaktion trotzdem für ein Pseudonym entschieden. Es wäre doch schade, wenn er wegen dieses Artikels zukünftige Investoren verliert.